Das Modell der demokratischen Nation

  • Während die Staatsnation sich an einer homogenen Gesellschaft orientiert, besteht die demokratische Nation im Wesentlichen aus verschiedenen Kollektiven. Sie betrachtet Verschiedenheit als Reichtum. Das Leben selbst ist nur durch Verschiedenheit möglich.

 ABDULLAH ÖCALAN


Für die Gesellschaften ist das Modell des Nationalstaates nichts als eine Falle und ein Netz von Unterdrückung und Ausbeutung. Das Konzept der demokratischen Nation dreht diese Definition um. Die Definition der demokratischen Nation, die nicht an starre politische Grenzen, eine Sprache, Religion und Geschichtsinterpretation gebunden ist, bedeutet das solidarische Zusammenleben pluralistischer Gemeinschaften von freien und gleichen Bürgern. Demokratische Nation bedeutet, dass das Volk sich selbst als Nation konstituiert, ohne sich dabei auf Macht und Staat zu stützen, also eine Nationwerdung, die durch die dafür nötige Politisierung erfolgt. Es geht um den Nachweis, dass es möglich ist, sich durch autonome Institutionen in den Bereichen Selbstverteidigung, Wirtschaft, Recht, Gesellschaft, Diplomatie und Kultur zur Nation zu entwickeln und sich als demokratische Nation zu konstituieren, ohne zum Staat zu werden und ohne die Macht zu ergreifen.
Die demokratische Gesellschaft lässt sich nur durch ein solches Modell von Nation verwirklichen. Die nationalstaatliche Gesellschaft ist von Natur aus für die Demokratie verschlossen. Der Nationalstaat drückt weder eine universelle, noch eine lokale Realität aus; vielmehr negiert er sowohl das Universale als auch das Lokale. Die Staatsbürgerschaft der uniformisierten Gesellschaft ist der Tod des Menschen. Dagegen macht die demokratische Nation den Aufbau des Lokalen und Universalen wieder möglich. Sie gewährleistet, dass die gesellschaftliche Realität sich ausdrücken kann.
Auch wenn es eine breite Palette von Modellen der Nationenbildung gibt, ist eine allgemeine Definition möglich, die alle vereint; dies ist die Definition der Nation hinsichtlich ihrer Mentalität, ihres Bewusstseins und ihres Glaubens. In diesem Fall ist die Nation eine Gemeinschaft von Menschen, die eine gemeinsame Gedankenwelt teilen. In dieser Definition von Nation sind Sprache, Religion, Kultur, Markt, Geschichte und politische Grenzen nicht entscheidend, sondern spielen die Rolle des Körpers. Die Nation im Wesentlichen als geistigen Zustand zu definieren, trägt einen dynamischen Charakter. In der Staatsnation prägt der Nationalismus die gemeinsame Mentalität, in der demokratischen Nation hingegen das Bewusstsein von Freiheit und Solidarität. Doch es wäre unzureichend, die Nationen nur über ihre geistigen Zustände zu definieren. Der Körper der Nationen mit nationalistischer Mentalität ist die Institution des Staates. Gerade deshalb werden solche Nationen ja als Staatsnationen bezeichnet.

Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit

Der Körper derjenigen Nationen, die eine Mentalität von Freiheit und Solidarität besitzen, ist die demokratische Autonomie. Die demokratische Autonomie bedeutet im Wesentlichen die Selbstverwaltung nach dem eigenen Willen von Individuen und Gemeinschaften, die eine ähnliche Mentalität teilen. Wir können dies auch als demokratische Administration oder demokratische Autorität bezeichnen. Dies ist eine gegenüber dem Universalen offene Definition. Das Nationenmodell, das aus einer Kulturnation geschaffen werden kann, aber Ausbeutung und Unterdrückung eindämmt und ausschließt, ist das Modell der demokratischen Nation. Dies ist die Nation, die der Freiheit und der Gleichheit am nächsten steht. Entsprechend dieser Definition ist dies das ideale Nationenverständnis für Gesellschaften, die nach Freiheit und Gleichheit streben.
Dass die kapitalistische Moderne und die von ihr angeregten Sozialwissenschaften sich nicht mit der Kategorie der demokratischen Nation befassen, liegt an ihrer Struktur und der ideologischen Hegemonie. Die demokratische Nation begnügt sich nicht mit der Einheit von Mentalität und Kultur, sondern vereint und leitet all ihre Mitglieder in demokratisch-autonomen Institutionen. Das ist ihr entscheidender Aspekt. Die demokratisch-autonome Art der Leitung ist die Hauptbedingung dafür, eine demokratische Nation zu sein. In dieser Hinsicht ist sie die Alternative zum Nationalstaat. Im Gegensatz zur staatlichen Leitung bietet die demokratische Leitung eine große Möglichkeit für die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit. Die liberale Soziologie identifiziert die Nation im Wesentlichen entweder mit einem gegründeten Staat oder mit einer Bewegung, die auf eine Staatsgründung abzielt.

Was wirklich zählt, ist das Leben wertvoll zu machen

Die angeblichen Bedingungen für nationale Gesellschaften – die Phänomene der gemeinsamen Heimat und des gemeinsamen Marktes – können als materielle Elemente nicht als die entscheidenden Qualitäten einer Nation betrachtet werden. Die demokratische Nation betrachtet die Heimat als wertvoll, denn sie stellt eine große Möglichkeit für eine nationale Mentalität und Kultur dar. Doch es darf nicht vergessen werden, dass der von der kapitalistischen Moderne fetischisierte Begriff von Heimat als Vaterland aus Profitgründen über die Gesellschaft gestellt wurde. Es ist auch wichtig, die Heimat nicht übertrieben wertzuschätzen. Das Verständnis »Alles fürs Vaterland!« entspringt einem faschistischen Verständnis von Nation. Was wirklich zählt, ist das Leben wertvoll zu machen. Die Heimat ist kein Ideal. Sie ist nur ein Mittel für das Leben der Nation und des Individuums. Während die Staatsnation sich an einer homogenen Gesellschaft orientiert, besteht die demokratische Nation im Wesentlichen aus verschiedenen Kollektiven. Sie betrachtet Verschiedenheit als Reichtum. Das Leben selbst ist nur durch Verschiedenheit möglich. Der Nationalstaat, der auf einen quasi in Serie produzierten Einheitsbürger drängt, steht auch in dieser Hinsicht dem Leben diametral gegenüber. Sein ultimatives Ziel ist die Schaffung eines Robotermenschen. In dieser Hinsicht bewegt sich der Nationalstaat im Grunde auf das Nichts zu. Die Bürger*innen, das Mitglied der demokratischen Nation ist anders und bezieht diese Verschiedenheit aus den verschiedenen Gemeinschaften. Die Existenz jeder Sippe und jedes Stamms ist für die demokratische Nation eine Bereicherung.
Die Sprache ist genauso wie die Kultur zweifellos von Bedeutung für eine Nation, aber keine zwingende Voraussetzung. Verschiedene Sprachen zu sprechen ist kein Hindernis für die Zugehörigkeit zur selben Nation. Genauso, wie ein einzelner Staat für jede Nation unnötig ist, ist auch eine einzige Sprache oder Dialekt für jede Nation unnötig. Eine nationale Sprache ist notwendig, aber keine unerlässliche Voraussetzung. Wir können auch verschiedene Sprachen und Dialekte als Bereicherung für eine demokratische Nation betrachten. Doch der Nationalstaat besteht meist starr auf einer einzigen Sprache. Er bietet Mehrsprachigkeit, insbesondere mehreren Amtssprachen, kaum eine Chance. In dieser Hinsicht versucht der Nationalstaat, von den Privilegien einer herrschenden Nation zu profitieren.

* Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem V. Band (Kürt Sorunu ve Demokratik Ulus Çözümü) der Buchreihe "Manifest der demokratischen Zivilisation“, welcher noch nicht auf Deutsch erschienen ist. Die Texte sind teilweise in „Abdullah Öcalan, Demokratische Nation, International Initiative Edition, Köln 2018“ erschienen.

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