Die Doppelmoral der Empörung und der Kampf gegen den Rassismus

  • Wenn Teile der deutschen Bevölkerung sich an Demos gegen Rassismus beteiligen, es aber normal finden, dass Menschen in der Fleischindustrie aus Rumänien 3 Euro die Stunde bekommen, dann ist dies eine zynische Doppelmoral.

RAFAEL REHM

 

Rassismus selbst bildet ein sehr vielschichtiges Problem. Dass dieses Problem vielfach verkürzt wird, macht die Vereinfachung in der Darstellung der historischen Entwicklung des Rassismus deutlich. In Bezug auf die Entstehung des modernen Staates und des Frühkapitalismus wird beispielsweise immer noch oftmals behauptet, dass die Kaufleute à la Kolumbus an der Schwelle zum 16. Jahrhundert damit begangen, die Bevölkerung Afrikas zu versklaven. So dargestellt, entspricht diese Feststellung nicht dem historischen Tatbestand. Vielmehr erwarben die europäischen Kaufleute schwarze Sklaven bei schwarzen Sklavenhändlern an der westafrikanischen Küste, um ihre Kolonien in der Karibik aufzubauen und landwirtschaftlich zu versorgen.* Diese Feststellung soll keinesfalls den Sklavenhandel postum legitimieren, sondern lediglich zeigen, dass sich „Rassismus“ nicht einfach in der diffentia specifia äußerlicher Merkmale erschöpft. Auch am Beispiel der Briten und ihrer Herrschaft in Indien wird deutlich, dass die britischen Geschäftsleute und Politiker*innen nicht einfach bloß rassistisch waren, sondern dass sie sich eines vorhandenen Rassismus in Indien bedienten, um einen Teil der indischen Bevölkerung auszubeuten. Die Briten nutzten gekonnt den vorhandenen Rassismus der brahmanischen Kaste gegen die Dalits, die sogenannten „Unberührbaren“, und die nicht-hinduistische Gesellschaft aus, um mit dieser ein „gutes Geschäft“ auf dem Rücken der armen Bevölkerung zu machen.

Ausnahmezustand ist die Regel

Walter Benjamin warnt in der VIII. These „Über den Begriff der Geschichte“: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der >Ausnahmezustand<, in dem wir leben, die Regel ist.“ (Benjamin 2013: 697)** Sicherlich bietet diese Aussage keinen Trost für diejenigen, die einen geliebten Menschen, ein Kind, einen Bruder, eine Schwester oder ein Elternteil durch einen rassistischen, heimtückischen und feigen Mord verloren haben. Aber sie hilft zu verstehen, dass Rassismus als solcher auch nicht als Sonderfall oder Ausnahmezustand erscheint, sondern eine Grundlage für die moderne Gesellschaft und ihre Mechanismen der kapitalistischen Arbeitsteilung bildet. Weiter entgegnet Benjamin den sozialdemokratischen Politikern, die eine bessere Zukunft und den Fortschrittsglauben predigen, seiner Zeit: „Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten.“ (Benjamin 2013: 702) Und ja, Walter Benjamin sollte Recht behalten. Wenn der Verlauf der katastrophalen Geschichte der Unterdrückung nicht angehalten wird, wenn ihr Narrativ nicht durch den Einwand eines historischen Subjekts der Befreiung unterbrochen wird, dann gibt es keine Hoffnung auf eine Veränderung in der Zukunft. Ende September 1940 nahm sich Walter Benjamin verfolgt durch die Gestapo im spanischen Grenzort Portbou das Leben, um dem Konzentrationslager zu entfliehen. Seinen jüngeren Bruder ermordete man am 26. August 1942 im Konzentrationslager Mauthausen. Das Ziehen der Notbremse misslang dem Subjekt der Geschichte und der historische Materialist glaubte an den versprochenen Fortschritt der Sozialdemokratie. Sein Glaube fand ein Ende in Auschwitz. Was aber sagt uns das heute? Entscheidend ist nicht bloß, dass ein Kampf gegen den Rassismus geführt wird, sondern auch und vor allem wer diesen Kampf führt. Auch die Opfer von Hanau sind nicht verschont geblieben, selbst von Rassist*innen für ihre Zwecke politisch instrumentalisiert und von diesen betrauert zu werden. Zwar keine deutschen Rassist*innen, aber immerhin Rassist*innen. Wird der Kampf gegen den Rassismus bloß identitätspolitisch geführt, so stellt er bloß die andere Seite des Rassismus dar.

Eine zynische Doppelmoral

Die Empörung über den Rassismus unterliegt einer zynischen Doppelmoral, die das Problem des Kampfes gegen den Rassismus auf eine Zensur von bestimmten Begriffen und gesellschaftlichen Normen reduziert, während der Rassismus als Vehikel für die soziale Grundbestimmung der Arbeitsteilung weiter fortlebt. Ein Kampf gegen den Rassismus, der sich lediglich darin ausdrückt, dass sich große Teile der „neuen Linken“ über das „Uncle Bens“ Logo empören, während es hingenommen wird, dass unsere Bekleidung von Kindern aus Indien und Bangladesch produziert wird, die sich versklaven müssen, um zu essen, bleibt lediglich das Instrument innenpolitischer Selbstinszenierung. Der Rassismus gegen die Nachbar*in wird lediglich gegen den Staatsrassismus getauscht.***
Wenn weltweit auf dem Rücken unseres Wohlstands täglich Kinder verdursten und verhungern, wenn Frauen aus Asien, Osteuropa und anderen Armutsregionen in Deutschland der Prostitution nachgehen und dabei unendliche Male systematisch vergewaltigt werden, und dies dann als „Selbstbestimmung der Frau“ und als „allzugutes Geschäft“ für die Menschen aus diesen Regionen deklariert wird, wenn in den USA aus „Empörung“ bloß Statuen diverser Kolonialist*innen gestürzt werden, sich aber weiterhin eine Vielzahl der afroamerikanischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln aus dem Müll versorgen muss, wenn Teile der deutschen Bevölkerung sich an Demos gegen Rassismus beteiligen, es aber normal finden, dass Menschen in der Fleischindustrie aus Rumänien 3 Euro die Stunde bekommen, dann ist dies eine zynische Doppelmoral.
Aber wie sieht ein Kampf gegen den Rassismus aus? Die politische Mitte in Deutschland hat wohl auch den Ursprung für den Rassismus ausgemacht. Scheinbar die AfD. Die AfD und Konsorten sind aber offensichtlich nicht die Erfinder*innen des Rassismus. Hierin liegt auch ein Irrglaube. So, als wäre ein erfolgreicher politischer Kampf gegen die AfD auch ein erfolgreicher Kampf gegen den Rassismus. Selbstverständlich sind Teile der AfD ein Brandbeschleuniger für rassistische Ressentiments, aber eben nicht die Ursache für den Rassismus. Scheinbar lautet die Logik: Entferne die Rassist*innen aus dem Parlament und sanktioniere den Rassismus, dann verschwindet der Rassismus.

Ein Kampf gegen den Rassismus, der sich dieser einfachen Logik bedient, ist letztlich ein symbolischer Kampf der konservativen und neoliberalen Mitte gegen Rechts. Es ist symptomatisch für den Kampf der Vertreter*innen des bürgerlichen und liberalen Lagers in ganz Europa, den Kampf auf die Ebene der Werte zu lenken. Paradigmatisch hierfür ist die Rede des französischen Staatspräsidents Emmanuel Macron an der Sorbonne vom 26. September 2017. Für Macron wird auch der Kampf des Rassismus zu einem Kampf der Demokrat*innen gegen die Antidemokrat*innen. Macron ruft alle dazu auf, sich ihm anzuschließen, um „unsere Werte und Interessen zu verteidigen“ (Macron 2017)***, denn „alleine Europa kann tatsächliche Souveränität gewährleisten, das heißt, die „Fähigkeit, in der heutigen Welt zu bestehen“. Zugleich gilt es nach Macron „eine europäische Souveränität aufzubauen“, weil diese eben dasjenige ist, „was unsere Identität ausmacht, was unsere tiefe Identität prägt“. Nach Macron sind diese durch die europäische Souveränität prägenden moralischen Größen das „Wertegleichgewicht“, das „Verhältnis zur Freiheit“, zu den „Menschenrechten“ (Ebd.) und zur Gerechtigkeit“. Nicht zu vergessen ist die „Treue zur Marktwirtschaft“. Wir alle müssen nach Macron „die Verbindung zu Europa im Herzen tragen“ und „die Narben, die unser Europa bedecken, sind unsere Narben“. Mit Rekurs auf die Schrecken der beiden Weltkriege als Alternative, versucht Macron zur Schlacht um Europa zu mobilisieren. Auch konkret in Deutschland ruft man parteiübergreifend zu einem Bündnis der Demokrat*innen“**** gegen die „Antidemokrat*innen“ auf.

Die Barbarei der Grundzustand

Es ist durchaus korrekt, auf das Diktum der bürgerlichen Gesellschaft zu insistieren. Liberté, Égalité, Fraternité müssen immer wieder im Vordergrund stehen, aber der methodische Fehler liegt darin, einen Appell an den Staat in dieser Richtung über die taktische Bedeutung hinaus ernst zu nehmen, beziehungsweise zu glauben, es wäre damit getan, darauf aufmerksam zu machen, dass bestimme Werte verteidigt werden müssen. Dieser Gedanke impliziert letztlich, dass der Gesellschaft innerhalb des Paradigmas der krisenhaften Ökonomie des Kapitalismus die Bedingungen der Möglichkeit einer Umsetzung der Werte und eines guten Lebens bereits inhärent seien. Doch letztlich verweisen genau diese „Werte“ nur darauf, dass sie nicht in den gesellschaftlichen Corpus und das Miteinander der gesellschaftlichen Akteur*innen eingegangen sind. Kurzum: Wo man bloß über Werte und deren Einhaltung diskutiert, ist die Barbarei der Grundzustand. In der Rassismus-Debatte geht es also letztlich nicht um die Einhaltung von Normen und Werten oder die Hoffnung auf eine Regulierung des gesellschaftlichen „Missstandes“, sondern um das Offenlegen des Scheiterns der modernen Gesellschaft auf der Grundlage des krisenhaften Kapitalismus und darum, dass die Forderungen der bürgerlichen Gesellschaft an die Gattung „Mensch“ nur jenseits der bestehenden Gesellschaftsformation erfüllt werden können.
Walter Benjamin umschreibt dies folgendermaßen: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom.“ (Benjamin 2013: 701) Das Narrativ über den Fortschritt legitimiert letztlich nur den status quo. Nach Benjamin erschien Robespierre die Geschichte nicht als Kontinuum des Fortschritts, sondern er zitierte das Versprechen der Freiheit aus dem antiken Rom an die Gattung „Mensch“ aus der Vergangenheit gegen den Machtanspruch des französischen Adels in der Gegenwart. Er unterbrach somit einen Herrschaftsdiskurs und konstruierte in der Bourgeoisie ein neues Subjekt der Geschichte, welches seine Zukunft selbst in die Hand nahm. „So riss sich Rom für Robespierre von der monumentalen Erstarrung los und wurde aktuell.“***** Dies war der Beginn der Französischen Revolution. Der Kampf gegen den Rassismus an der Seite der „konservativen und liberalen Mitte“ erscheint lediglich als ein Kampf für das „Fortschreiten“ des status quo der Regierung. Während aus lauter „Empörung“ die Symbole der „Politically Incorrectness“ entfernt werden, reproduziert sich das rassistische Ressentiment auf der Basis sozialen Lebens. Viele werden kommen, um ihr Beileid für die zahlreichen Opfer des Rassismus auszusprechen, die meisten aber, um zur Tagesordnung überzugehen. Sie erinnern und gedenken lediglich, um zu vergessen. Niemand hat das Recht für die Opfer zu sprechen, niemand ist in der Lage etwas zu „versöhnen“ oder Getanes rückgängig zu machen.

* Vgl. J. Elvert: Europa, das Meer und die Welt. Eine maritime Geschichte der Neuzeit, München: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 364.
** W. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: derselbe: GS I/2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013, S. 690-704
*** https://www.diplomatie.gouv.fr/IMG/pdf/macron_sorbonne_europe_integral_cle4e8d46.pdf#page=1&zoom=auto,-202,848
**** https://www.westfalen-blatt.de/OWL/Kreis-Minden-Luebbecke/Bad-Oeynhausen/4139626-Gruene-und-UW-fordern-Zusammenhalt-der-Demokraten-BBO-will-sachliche-Argumente-liefern-Parteien-im-Stadtrat-distanzieren-sich-von-AfD
***** D. Bensaïd: Walter Benjamin. Links des Möglichen, Hamburg: Laika 2015, S. 79

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