Rassismus in der Wissenschaft – das ewige Opfer

  • Die Entmündigung von Kurd*innen mag der ein oder anderen Karriere helfen. Auf die Dauer entfernt sich der wissenschaftliche Diskurs jedoch immer mehr von der Realität in Kurdistan und in der Diaspora.

MANÎ CÛDÎ

 

Kaum wurde jemals so viel zum Thema Kurdistan publiziert, wie in den letzten Jahren während und nach dem Kampf gegen den IS. Die Strukturen, die hinter diesen Publikationen stecken haben sich jedoch massiv geändert. Während wir vor allem in den 80er und 90er Jahren eine große transnationale Szene an Exilkurd*innen sahen, die eher im historisch-kulturwissenschaftlichen Bereich grundsätzliche Fragen zur Existenz, Kultur und Verfolgungsgeschichte von Kurd*innen publizierten, kam in den 2000ern eine längere Stille auf. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Regime des Iran, Syriens und der Türkei stabilisiert und damit auch deren unterdrückender Einfluss auf die kurdische Wissenschafts- und Kulturszene. Im Irak festigte sich die Kurdistan Region als anerkannte Einheit und sobald Kurd*innen dort aus der exklusiven Opferrolle der Anfal Zeit herauskamen, war die westliche Wissenschaft nicht weiter interessiert. Mit dem Blick auf die Türkei etablierte sich viel eher ein Forschungszweig, der die AKP als demokratisierend wahrnahm, die Kurdenfrage nur als Randnotiz zum Überthema „EU-Beitritt der Türkei“ wahrnahm. Selbst Bashar al Assad wurde zuweilen als liberaler Nachfolger seines Vaters anerkannt und auch, wenn über oppositionelle Bewegungen im Iran geschrieben wurde, waren Kurd*innen nur Randthema. Mit dem Aufkommen des Islamischen Staats im Jahre 2014 konnte die Debatte rund um den politischen Status von Kurd*innen jedoch nicht mehr umgangen werden.

Kurdistan als Karrieresprungbrett

Eine öffentlichkeitswirksam mordende und territoriale Bereiche einnehmende Terrororganisation übernahm die Aufmerksamkeit der Weltbühne und die einzigen wirklichen Gegner der Organisation zeigten sich spätestens während dem Kampf um Kobani: Die Kurd*innen. Von Südkurdistan bis Westkurdistan wurden kurdische Streitkräfte, von Peshmerga bis hin zur YPG/YPJ als widerständige Guerilleros und Guerilleras inszeniert, während die wirklichen politischen Strukturen und Feinheiten hinter diesen Gruppen größtenteils ignoriert wurden. Horden an westlichen Journalist*innen machten sich auf nach Südkurdistan und nach Rojava, erlegten den örtlichen Behörden eine große Last auf, da für deren Sicherheit gesorgt werden musste, und Namen, von denen man im wissenschaftlichen Diskurs zu Kurdistan nie gehört hatte, wurden plötzlich zu regelrechten Kurdistanexperten. Während das kurdische Volk, was von verschiedensten Seiten die totale Auslöschung fürchtete, jegliche ausländische Aufmerksamkeit begrüßte, eröffnete sich ein Karrierefeld für weiße nicht-Kurd*innen, die in den meisten Fällen kaum kurdisch sprachen, keineswegs die Qualifikation gestandener Wissenschaftler*innen hatten und somit zu einer Schnittstelle zwischen der Stimme der Kurd*innen und ihrer Administrationen sowie der Außenwelt wurden. Während viele diese Verantwortung erkannten und sorgsam mit ihr umgangen, war das Thema Kurdistan für andere ein Karrieresprungbrett, wo ohne Rücksicht auf vorherige wissenschaftliche Arbeiten geschweige denn auf lokale Journalist*innen und Wissenschaftler*innen ein Diskursraum übernommen wurde. Grundsätzliche Standards wissenschaftlicher Arbeit wurden missachtet, wiederholt werden nur weiße Autor*innen zitiert und eurozentrische Theorien auf Kurdistan angewendet. Methodisch sind diese Arbeiten parallel dazu so mangelhaft ausgestattet, dass sie kaum publiziert werden könnten, wenn mit demselben Ansatz etwa eine Studie zur EU eingereicht werden würde.

Rassistischer Blick auf Kurdistan

An solch einer Dynamik ist leider der rassistische Blick auf Kurdistan schuld. Kurdistan als exotisches und wildes Kampfgebiet spricht viele kurzfristig an. Kurdistan als Feld mit wirklichen politischen Akteuren und realen politischen Forderungen sowie einem stetig wachsenden wissenschaftlichen Feld war dabei zweitrangig. Bis heute beinhalten die großen englischsprachigen wissenschaftlichen Publikationen zum Großteil Beiträge von weißen nicht-Kurd*innen, die kaum die objektive Qualifikation haben, um diese Rolle aufzunehmen. Sie konsultieren Kurd*innen aus der Region, die unter großer individueller Gefahr ihre Einsichten und Analysen bieten, nur um diese nicht einmal zitieren geschweige denn deren Arbeit materiell zu unterstützen. Manche können sich glücklich schätzen, wenn sie für einen Hungerlohn als Übersetzer*innen oder Fixer*innen in Auftrag genommen werden, darüber hinaus ist aber nichts zu erwarten. Als anonymisierte Opfergruppe sind Kurd*innen ein Bild, was sich verkauft, als souveräne Journalist*innen und Forscher*innen aber nicht. In Deutschland sieht dieses transnationale Politikfeld nicht anders aus: Wenn Nachrichtensender oder Zeitungen Experteneinsichten zum Thema Kurdistan brauchen, werden zunächst einmal nicht-Kurd*innen angefragt, einfach weil das Bild von den parteiischen und „leidenschaftlichen“ Kurd*innen jegliche Qualifikation überwiegt.
Dieser Rassismus muss nicht nur aus normativen Gründen bekämpft werden. Um einen wirklichen wissenschaftlichen Diskurs über dieses Thema zu haben und um darauf basierend politische Lösungswege zu finden, muss der rassistische Blick des Westens auf Kurdistan radikal hinterfragt werden, auf allen Ebenen. Die Entmündigung von Kurd*innen mag der ein oder anderen Karriere helfen, auf die Dauer entfernt sich der wissenschaftliche Diskurs jedoch immer mehr von der Realität in Kurdistan und in der Diaspora. Informationspolitik bildet das Zentrum sehr realer politischer Kämpfe und diese antirassistisch anzugehen wird beeinflussen, wie souverän Kurd*innen in ihrer Außenwahrnehmung sein können.

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