Wiedersehen in Rojava

Haberleri —

Anja FLACH

Die Weltpresse konnte es kaum glauben, als kurdische Frauen in der YPJ selbstbewusst in der militärischen Leitung bei der Befreiung Kobanês teilnahmen, in vielen Bereichen, ob militärisch oder zivil, ganz selbstverständlichs vor die Kameras traten und Erklärungen abgaben, Panzer fuhren und Frontabschnitte befehligten. Das war nicht die Rolle, die sie von kurdischen Frauen erwartet hatten. Plötzlich erscheinen in Modezeitschriften wie Elle und Marie Claire mehrseitige Reportagen über die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), ein bekannter australischer Fernsehsender zeigt einen Dokumentarfilm unter dem Titel Female State, Modeketten wie H&M oder die Modezeitung Madame zeigen Models in Kleidung, die derjenigen der KämpferInnen der bewaffneten Organisationen der PKK- und der YPG/YPJ-KämpferInnen nachempfunden ist. Für KurdInnen ist es jedoch schon seit Jahrzehnten nichts Ungewöhnliches mehr, wenn Frauen Kommandantinnen, Bürgermeisterinnen oder Sprecherinnen von Parteien und Organisationen sind. 

Traum vom freien Leben der Guerilla

1978 als die PKK gegründet wurde, nahmen nur zwei Frauen an ihrem ersten Kongress teil, eine von ihnen war Sakine Cansiz, die andere Kesire Yildirim, die später die PKK verließ. Sakine wurde 1979 wurde verhaftet, kurz vor dem vom Westen unterstützten Militärputsch von 1980, der die aufkeimenden Träume der Linken und KurdInnen für eine gerechte und demokratische Türkei unter Verhaftungen, Krieg und unbeschreiblicher Folter begrub. Während Sakine im Gefängnis von Diyarbakir einen eisernen Willen entwickelte und sich schwor, dass keine der Frauen mit denen sie gemeinsam inhaftiert war, unter der Folter zusammenbrechen und Verrat begehen werde, was ihr auch gelang, gründete die PKK 1984 eine Guerillaarmee, die den Kampf gegen die faschistische Diktatur aufnahm. 12 Jahre träumte Sakine von dem freien Leben der Guerilla. Nach ihrer Entlassung beteiligte sie sich dort am Aufbau von Frauenstrukturen. Als sie 1998 nach Europa kam, um hier politisch für die kurdische Frauenbewegung zu arbeiten, verlangte der türkische Staat ihre Auslieferung. 2007 wurde sie in Hamburg festgenommen, aber man musste sie wieder freilassen. Der türkische Geheimdienst MIT setzte einen Agenten, Ömer Günay, auf Sakine Cansiz an. 

Autonome Frauenstruktur der PKK

Die kurdische Freiheitsbewegung, die aus den revolutionären Aufbrüchen der 1970 Jahre hervorgegangen war, sah die Unterdrückung von Frauen von Anfang an nicht als Nebenwiderspruch, sondern als tragenden Pfeiler des Kolonialismus in Kurdistan. Noch in den 1980er Jahren waren laut einer Studie von Özgür Halk von 1991 80 % der Frauen und Mädchen im türkisch besetzten Kurdistan Analphabetinnen, sie waren ökonomisch abhängig, wurden oft schon als Kinder einem Mann versprochen, Zwangsheirat und Polygamie waren vielerorts verbreitet.

Mit der Gründung der Guerillaorganisation 1984 gingen tausende oft sehr junge Frauen „in die Berge“. Für sie war es eine Möglichkeit gegen die Vernichtung ihres Volkes durch den türkischen Staat zu kämpfen und gleichzeitig aus den feudalen Unterdrückungsverhältnissen auszubrechen. Dies ist keineswegs ein kurdisches Phänomen, auch andere Guerillaorganisationen, wie der FARC in Kolumbien oder die Naxaliten in Indien haben einen sehr hohen Frauenanteil. Frauen sind neben der Jugend der Teil der Gesellschaft, dessen Wunsch nach Freiheit am größten ist. In Kolumbien oder Indien jedoch entwickelten sich keine autonomen Frauenstrukturen wie in der PKK-Guerilla. 

1995: Frauenarmee YAJK

Der Guerillakampf in Nordkurdistan fand schnell breite Unterstützung in der Bevölkerung. Zunächst reorganisierten sich auch hier feudale Verhältnisse, Frauen fanden sich statt im Kampf in Logistik- oder Kücheneinheiten wieder. „Der schwerste Kampf war der Kampf gegen unsere eigene Sozialisation“, erklärte mir eine Kämpferin 1995. „Wir mussten lernen uns selbst und damit auch den anderen Frauen zu vertrauen, Verantwortung zu übernehmen.“ Viele Männer versuchten, die Frauen aus den bewaffneten Einheiten herauszuhalten, denn es war ihnen klar, wenn ihr Herrschaftssymbol, die Waffe, aus der Hand geben, müssen sie über kurz oder lang auch die Macht teilen. Frauen begannen jedoch mit der Unterstützung des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, eigene Bataillone aufzubauen, 1993 wurde das erste Mal darüber diskutiert eine Frauenarmee zu schaffen, welche dann im März 1995 tatsächlich praktisch wurde. Die Frauen stellten eine eigene Kommandantur auf und begannen das Leben unabhängig von Männern zu organisieren, von der Logistik bis hin zu Kampfeinsätzen. Die Guerilla gilt seither als befreites Gebiet für Frauen in Kurdistan. Immer mehr junge Frauen schlossen sich dem „Verband der Freien Frauen Kurdistans“ (YAJK) an. Nachts gingen sie heimlich in die Dörfer, um den Kontakt zu der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Die Augen der Dorffrauen begannen zu leuchten, wenn sie die starken Frauen sahen, die Reden vor der versammelten Dorfbevölkerung hielten, Befehle an Männer gaben und die Bevölkerung verteidigten. 

Kommandantin Rûken 

Eine dieser Kommandantinnen war Rûken vom Jirik Aşîret. Ich lernte sie 1996 in Beytüşşebab kennen. Sie war höchstens 17 oder 18 Jahre alt, aber in dieser schroffen Gegend groß geworden. Selbstbewusst leitete sie die Einheit gemeinsam mit dem etwa 20 Jahre älteren Kommandanten auf Augenhöhe. Die Frauen aus den Aşîrets der Jirik und Goyî machen mich zweifeln, dass das Patriarchat in Kurdistan sehr tief verwurzelt ist, denn sie zögerten nicht einen Augenblick an ihren Fähigkeiten eine Einheit zu führen, schwere Waffen zu bedienen oder auch Ansprachen auf großen Versammlungen zu halten. 

Wenn wir nachts in die Dörfer gingen, um mit den BewohnerInnen zu sprechen und Lebensmittel für die Guerilla zu holen, sprach Rûken zu den Frauen, sie erklärte ihnen, dass es ehrlos sei, Kinder zu verheiraten oder Frauen zu schlagen. Jede Frau im Dorf sagte sich: Wenn diese Kommandantin so selbstbewusst auftreten kann, dann kann auch ich das. Nachts kamen viele zu uns hoch in die Berge und schlossen sich uns an. 

Kurdische Frauenforschung: Jineoloji

In den Bergen erforschen die Guerilleras die Rolle der Frauen in den matriarchalen Kulturen des Neolithikums und entwickeln die „Jineoloji“, die kurdische Variante der Frauenforschung, die Praxis und Theorie immer miteinander verbindet. In „Akademien“, die in Hinterhöfen kurdischer Städte genauso wie in den Bergen, eröffnet wurden, lernen Frauen, wie Organisationen geschaffen werden kann, demokratische Autonomie, eine frauenzentrierte Gesellschaft ohne Staat. 

In der Zivilgesellschaft organisieren sich Mütter, Ehefrauen oder Schwestern von gefangenen KämpferInnen, von Gefallenen und Verschwundenen. Im Verborgenen wurden Frauenräte aufgebaut, aus denen später der KJA hervorging. Ein Mann, der in der kurdischen Bewegung organisiert ist und eine Frau schlägt, wird ausgeschlossen. 

In selbstorganisierten Schulen lernen Jungen und Mädchen Selbstbestimmung genauso wie gemeinsam kochen, unterrichtet wird in der verbotenen Sprache Kurdisch. In einer Presseakademie wird eine herrschaftsfreie, geschlechtsneutrale Sprache auch an die angehenden männlichen Journalisten vermittelt. In Nord- und Westkurdistan wurden neue Werte definiert, eine neue Ästhetik geschaffen. Freie Frauen gelten als schön, nicht Frauen, die sich nur als bemaltes und geschmücktes Anhängsel von Männern sehen, wie es in Südkurdistan oft scheint. 

Demokratischer Könföderalismus

2014 reiste ich nach Rojava, dort traf ich mehrere Frauen aus meiner Einheit in Beytüşşebab wieder, vor allem Frauen, die sich damals in den 1990er Jahren aus Rojava, das damals noch Başûrê Piçuk (Kleiner Süden) hieß, der Guerilla angeschlossen hatten. Eine von ihnen ist Hanife Hîsen. Damals noch ein sehr junges Mädchen, aber eine starke Guerilla, ist sie heute im Leitungsrat von TEV DEM, der Demokratischen Gesellschaftsbewegung in Rojava. „Wir haben das System des demokratischen Könföderalismus hier in Rojava eins zu eins nach dem Modell von Öcalan, wie er es in seinen Büchern beschreibt, umgesetzt“, erklärt sie mir. „Du darfst nicht vergessen, der Vorsitzende hat 20 Jahre hier in Rojava gearbeitet, sonst wäre die Revolution hier nicht möglich gewesen, es gibt hier Frauen, die seit 30 Jahren die Arbeit der kurdischen Bewegung unterstützen.“ 

Auch Rûken meine Kommandantin aus Beytüşşebab treffe ich an der Front von Til Koçer wieder, sie leitet dort den ganzen Frontabschnitt. Mit einem Pickup fährt sie uns in die gerade befreite arabische Stadt, in der sich einige Frauen den YPJ angeschlossen haben. Mit den Kopftüchern sehen sie sehr ungewohnt aus in ihren Uniformen, aber sie wollen ihr Land gegen Daesch verteidigen und freie Frauen werden, in der feudalen Gesellschaft des Şammar Aşîret ist dies noch ein weiter Weg. 

Auch Çinar aus meiner alten Einheit aus Beytüşşebab treffe ich in Qamishlo, auch sie stammt ursprünglich aus Rojava. Angesichts der gewaltigen Aufgaben der Rojava Revolution stelle ich ihr die Frage, ob sie glaubt, dass Rojava eine Zukunft habe. „Natürlich Heval, daran habe ich gar keine Zweifel.“ 

Auch meine Zweifel sind nun wie weggewischt, klar mit diesen Frauen, die seit 30 Jahren die Ideologie des Vorsitzenden Apo leben, kann es gar nicht anders sein. Auf sie blicken die Frauen im gesamten Mittleren Osten. Wie glücklich die Gesichter der Frauen in Manbij, als YPJ Einheiten sie von Daesch befreit haben. Sie rissen sich die Niqabs herunter und ihre Augen leuchteten, als sie die YPJ sahen, wie vor 20 Jahren die Augen der Frauen in den Dörfern von Beytüşşebab. 

Wahrscheinlich wird es noch einmal 20 Jahre dauern, bis auch sie Frauenräte und eine eigene Frauenarmee aufgebaut haben, aber sie werden es zweifellos tun. 


Weiterlesen: Ceni-Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V: Widerstand und gelebte Utopien: Frauenguerilla, Frauenbefreiung und Demokratischer Konföderalismus in Kurdistan, Köln 2015
Anja Flach: Jiyaneke din, ein anderes Leben, 2003; Frauen in der kurdischen Guerilla: Motivation, Identität und Geschlechterverhältnis, Köln 2007 
Anja Flach, Michael Knapp, Ercan Ayboğa: Revolution in Rojava, Hamburg, 2015
Kampagne Tatort Kurdistan: Demokratische Autonomie in Nordkurdistan, Hamburg 2012
Sakine Cansiz: Mein ganzes Leben war ein Kampf, Band 1 und 2, Köln 2015


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